Jahrgang 44. 1998. Sonderausgabe
Archívum
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Modernisierung: Globalisierung oder Amerikanisierung?

Veränderungstendenzen in Lese und Benutzungsgewohnheiten in ungarischen Bibliotheken
 
Attila NAGY

Abteilungsleiter der Széchényi-Nationalbibliothek

 
Der gesellschaftliche Hintergrund

Die Wende 1989/1990 brachte Ungarn - wie für die ganze Mittel-Ost-Europa eine bedeutende Chance, sich wieder an die globalen Modernisierungstendenzen der Welt anschliessen zu können. Es endete die Alleinherrschaft einer voluntaristischen Ideologie, und danach folgten rasche und radikale Veränderungen in dem politischen System: das Einparteisystem wurde von der parlamentarischen Demokratie mit mehreren Parteien abgelöst, statt der Planwirtschaft begann man die Marktwirtschaft auszubauen. Infolge dieser Ereignisse stieg aber die Inflation in den ersten Jahren in bedeutendem Masse (30-35%), erhöhte sich die bisher unbekannte Arbeitslosigkeit auf 10-12%, sanken die Ziffern der GDP und das Lebensniveau der Bevölkerung merkbar. Ende 1993 schlug der grösste Teil dieser negativen Tendenzen um, und es begann ein langsames wirtschaftliches Wachstum. 1994 gelang es, die Inflation auf 18% senken, aber es hielt der Niedergang der mittleren Schichten an, "die Privatwirtschaft erreichte sowohl in der Beschäftigung, als auch in der GDPProduktion ein Übergewicht".1 Zur gleicher Zeit opferte die Regierung nach der Abstimmung 1994 - im Interesse der Verbesserung der Bilanz der Wirtschaft - das Wirtschaftswachstum, es erhöhte sich die Inflation wieder um 10% auf (1995), die sie auch 1996 noch nicht unter 23% gedrückt werden konnte, der Verbrauch stagnierte und die Privatisation wurde für, anderthalb Jahre zurückgestellt. "Die sozialen Kennziffer zeigen klar eine akute Krise, die Senkung der Realeinkommen, den Rückfall des Verbrauchs, des Wohnungsbaus, der kulturellen Tätigkeiten."2 Wenn man all dies betrachtet, waren die Hauptverlierer dieser Prozesse die mittleren Schichten des Landes, die Zahl der Armen (hierher gehören hauptsächlich die Familien mit mehreren Kindern und die älteren Altersstufen) stieg in den vergangenen drei Jahren von 1 auf 3 Millionen, während das Einkommen des "oberen Zehntausend" sowohl in absolutem, als auch in relativem Sinne zunahm. (Einem taucht das Schreckensbild einer gespalteten Gesellschaft unvermeidlich auf: die Südamerikanisierung.)
Aber wir wissen genau von den hervorragenden Sozialwissenschaftlern der Welt, dass die parlamentarische Demokratie und der Ausbau der Marktwirtschaft bloss die eine Seite ist, aber nicht eine ausreichende Voraussetzung für eine wirksame soziale Modernisierung bildet. Die Entstehung eines starken Mittelstandes ist die Garantie für eine ausgewogene soziale Struktur, wo die Bevölkerung verhältnismässig hoch gebildet ist, wo starke bürgerliche Kultur, Mentalität, Werte und Moral herrschen.
 
Als Folge der dargestellten Ereignisse wurde unsere Gesellschaft (in einem Masse, die hier nicht detailliert dargestellt werden kann) durch Anomia (d.h. Verunsicherung in den Normen) und durch Verfremdungserscheinungen, also durch Ziellosigkeit und durch das Gefühl der Zwecklosigkeit, Hoffnungslosigkeit des Lebens gekennzeichnet.7
Ich möchte mit einem einzigen Beispiel den verwirrten, instabilen Zustand des von dem "inneren Kompass", von der Kultur determinierten Normensystems veranschaulichen. Nur 10% der Befragten behauptete "mit irgendeiner politischen Partei zu sympathisieren, und bei beiden Abstimmungen 1990 und 1994 für die selbe Partei abgestimmt zu haben."4
Nach den letzten Daten sank die Zahl der ungarischen Bevölkerung 1996 wieder mit 40 Tausend, und seit dem 1. Weltkrieg sind noch nie so wenige Kinder geboren worden wie im vorigen Jahr, diese Tatsache ist sehr einfach auszuwerten und zu interpretieren.
Die Schilderung des gesellschaftlichen Hintergrundes aber wäre einseitig, wenn einige zweifellos positive Änderungen unerwähnt blieben: es erhöhte sich der Prozentsatz der Studierenden in den Mittelund Hochschulen und es vergrösserte sich die Zahl der selbständigen Handwerker, Kleinhändler und Unternehmer.

Neue Marktverhältnisse, Oder Änderungen im Verlagswesen und bei den Lesegewohnheiten

Beginnen wir mit den härtesten Daten, mit der Anzeige der Tendenzen im Publizieren von Bücher.13


     1990   1995 
 Die Zahl der Titel   6286,0   7355,0 
 Gesamtexemplar (in Td)   9240,6   44795,0 
 Gesamtumsatz (in Md HUF)   6,6   11,5 

Von Mitte der 80er Jahre an verringerte sich schon die Zahl der Titel, dann nahm sie wieder zu: im Gegensatz zu den Zahlen der Exemplare, wo in fünf Jahren 50% Rückgang erfolgte. Die 4-6-malige Erhöhung der Buchpreise, die die Inflationsrate bedeutend übersteigt - zeigt unmissverständlich die radikale Senkung der Kaufkraft, und diese Tatsache ist sowohl für die Bibliotheken, als auch die privaten Käufer kennzeichnend. Das heisst, man erlebt die Entstehung einer spezifischen Spannung: obwohl das Individuum auf den Bestand der Bibliothek angewiesen ist, können die Bibliotheken immer weniger Titel, oft nur ein einziges (also für die Ausleihe kaum oder gar kein) Exemplar für die Leser erwerben.
In einer selbständigen Studie sollen die wichtigsten Tendenzen im Verlagswesen behandelt werden; hier sei nur ein Detail der typischen Erscheinungen aufgrund einer Fallstudie zu nennen. Zwischen 1980 und 1984 verlegten 19 Verlage 207 Kinderbücher, während zwischen 1990 und 1995 73 Verlage 121 Titel publizierten: d.h. dreimal so vielen Verlage konnten nur etwa die Hälfte der vorigen Quantität produzieren.5 Besonders auffallend sind die inhaltlichen Änderungen auf diesem Gebiet: die populärwissenschaftliche Gattung entwickelt sich dynamisch, bzw. es gibt viele reich illustrierte Märchenbücher mit wenig Text, und es lässt das Angebot an klassischen Märchenbüchern und Volksmärchensammlungen nach.
Wir möchten uns aber jetzt gründlicher mit den Veränderungen in den Lesegewohnheiten beschäftigen, die die Beziehungen zum Markt aufzeigen. Zuerst sollen wieder die harten Daten einer Zeitreihe genannt werden: 1963 sahen die durchschnittlichen Männer in Ungarn täglich 24, 1993 schon 159 Minuten fern.6 Was das Lesen betrifft, sieht man dort natürlich eine entgegengesetzte Tendenz. Aber jetzt konzentrieren wir bloss auf die 15 Jahre zwischen 1977 und 1993 und innerhalb diesen Zeitraumes bloss auf das Lesen von Büchern.
Es wird das Bild noch schlimmer, wenn man die auf das Lesen aufgewendete Zeitdauer separat nach Zeitungen, Magazine, Zeitschriften, bzw. Büchern betrachtet. In dieser Periode verlief die Menge der Minuten, die die Erwachsenen mit Lesen von Büchern verbrachten, folgendermassen (nach Schulabschlüsse gegliedert):

 mit 8 Klassen     von 10 bis 6 Minuten pro Tag 
 mit Abitur (12 Klassen)     von 18 bis 8 Minuten pro Tag 
 mit Hochschulen oder Universitätsdiplom     von 31 bis 17 Minuten pro Tag 

D.h. nicht bloss der Zeitaufwand verringerte sich, den man mit dem Lesen generell zubrachte, sondern auch der Zeitaufwand innerhalb des Lesens, den man mit Lesen von Büchern verbrachte; das betrifft hauptsächlich die Klassiker, die wertvolle Belletristik (Gedichte), die in den Hintergrund geraten sind - wie darüber noch gesprochen wird -, während die Zeitungen, Wochenschriften, die Sachbücher und die Unterhaltungsliteratur relativ die Oberhand gewannen.
Diese Erscheinungen haben notwendige Konsequenzen in der Welt der Kinder und Jugendlichen, und beeinflussen noch dazu die Veränderungen in Leistungen der Schüler in der Schule.
Das detaillierte Präsentation der Daten, die Auswertung der Zusammenhänge ist hier und jetzt nicht in vollem Umfange möglich, doch sollen die wichtigsten Feststellungen aus dem letzteren Bericht des Auswertungszentrums des Nationalen Bildungsinstituts genannt werden:
Man soll aber das Diagramm, das die Leistungsabnahme im Lesen zeigt, analysieren.12
Ohne Kommentar ist zu betonen: die Leistung der Jugendlichen zwischen dem 9. und 18. Lebensjahr sank mit etwa 20 Prozent, und dabei kann die oben erwähnte - während der 4 Jahren sich abspielende - "Expansion" kein Grund dafür sein. Hinter dem Rückgang des Leseverstehens lässt sich die Vorbildwirkung der Eltern und das nachgeahmte Verhalten erahnen. Das heisst, es wird immer schweriger sein, "dicke Bücher" schnell bis zu einem angegebenen Zeitpunkt zu Ende zu lesen, und es kommt deshalb zu einer Flut an Pflichtlektüre. Videos - die leichter dekodierbar sind - kommt eine besondere Bedeutung zu.

Leistungsabnahme % in der 3., 8., 10. und 12. Klasse


Trotz den Daten, die diese Verschlechterungtendenz zeigen, ist das Gesamtbild wie darauf hinzuweisen wurde - ziemlich widerspruchsvoll. Das Institut für Soziologie der UAdW fertigte 1996 eine repräsentative Datenaufnahme mit 5000 Respondenten. Die auf die Frage ("Was bedeutet die Kultur für Sie?") gegebenen Antworten brachten ein solches positives Resultat, das auch für die Leseforscher eine Überraschung war (siehe die Tabelle).14
Also trotz dem sinkenden Prestige des Lesens, der radikalen Buchpreiserhöhung, der Schliessung tausender von Gewerkschafts-, Dorf- und (auch einigen) Schulbibliotheken scheint die traditionelle zentrale Stelle der Literatur und des Lesens auch noch heute in der ungarischen Kultur weiterzuleben. Die Prophezeiungen, die die Gutenberg-Galaxie schon mehrmals beerdigten, erfüllen sich nicht. Natürlich liestman auch auf dem Bildschirm heutzutage, aber man liest doch; das Buch hat nicht die gleiche Bedeutung wie vor 30-40 Jahren, aber ein Dritte! der Befragten sind doch zu den Büchern zurückgekehrt. Die Auswertung der Ursachen könnte das Thema einer anderen Studie sein, aber man kann doch die Kraft der spezifischen ungarischen und ostmitteleuropäischen Tradition entdecken, denn die in der Muttersprache geschriebenen, gedruckten Worte (Die Neue Testament von János Sylvester 1541, die Bibel von Gáspár Károli 1590, die Psalmenübersetzungen von Albert Szenczi Molnár, die Gedichte von Balassi, die Aufklärung und die Sprachreform, dann die Schöpfer des Vormärz usw.) bedeuteten doch das Glauben und die Hoffnung an den Erhalt der Nation und des Landes, sogar manchmal ein persönliches, authentisches Erleben der Wahrheit.

Was bedeutet die Kultur für Sie?
Frequenz der Antworten (%)

 Bücher, Lesen, Belesenheit, Literatur,Gedichte       32 
 Theater, Museum, Bildergalerie, Konzert, Diskothek, Kino, Ausstellung, bzw. der Besuch dieser       30 
 Intelligenz, breiter Gesichtskreis, hochgebildet sein, Wissen, Weltbild       22 
 Unterhaltung, Ausspannen, Freizeit, Ruhen       16 
 sich bilden       15 
 fernsehen       13 
 Schule, Unterricht, Erziehung, lernen, geschult sein, Universität       10 
 Benehmen, Achtungsbezeigung, Höflichkeit, Anstand, die (freundliche) menschliche Beziehung       10 
 Künste, Malerei, Bildhauerkunst       8 
 Hören von Musik zu Hause       6 
 Traditionen, Kennenlernen der Vergangenheit, Geschichte       5 
 Interesse, informiert sein, der Welt zuhören       5 
 Zeitunglesen, Lösen von Kreuzworträtsel       4 
 Lebensweise, Sitte       3 
 Radio hören       3 
 Wissenschaften, Philosophie       2 
 Nation, nationale Werte       2 
 menschliche Beziehungen, Gespräch, Geselligkeit       2 
 Das gesammelte Wissen und Erfahrung der Menschheit, der Völker       2 
 Sportveranstaltung, Fussballspiel       1 
 Volkskunst, Volkstanz, Handwerk       1 
 Denkweise       1 

In den Daten der schon zitierten landesweiten, repräsentativen Erhebung (1996), verglichen mit den genannten Ergebnissen, zeichnen sich die neuen Marktbedürfnisse der letzten Jahre klar ab. Standbilder und Momentaufnahmen werden nebeneinander gestellt werden, um daraus die Richtungen und Stärke der Veränderungen folgern zu können. (Die Untersuchungen zwischen 1978 und 1993 wurden von Ferenc Gereben durchgeführt.)
Sehen wir uns zuerst die Tabelle mit den Werken nach Entstehungszeit an! (In aller vier Zeitreihen befinden sich die Antworten von Erwachsenen über 18 Jahre.)11
Wie zu sehen ist, zeigt der chronologische Vergleich eine kohärente Ordnung. Das 19. Jahrhundert ist weniger interessant für die Leser (1978 20% der Antworten, heute bloss 5% konnten hierzu gezählt werden), während sich die Anziehungskraft der zeitgenössischen Autoren in dem gleichen Intervall verdoppelte (1978: 18% - 1996:40%)! Man weiss schon, dass die Fiktion eine Art Flucht aus der Klemme der Realität darstellt, aber sie ist zur gleichen Zeit das Mittel der Entdeckung, des Kennenlernens und des Erwerbs gültigen Wissens. Es wäre zu früh aus dieser einzigen Tabelle abzuleiten, welche Behauptung in diesem Fall stärker ist. Setzen wir lieber diese Untersuchung fort!
Die Anziehungskraft der Romantik und des klassischen Realismus ist von sinkender Tendenz, die Suche nach den zeitgenössischen, wertvollen Werken ist kaum nachzuweisen (3%!), während die Popularität der unterhaltenden, leichten, abenteuerlichen und romantischen Lesestoffe, die Illusionen wecken und eine Traumwelt vorzeigen, bzw. Fluchtreaktionen vermuten lassen, steigt. Nicht so radikal, aber eindeutig nimmt der Anteil der Sachbücher in den Lesestoffen zu: die populärwissenschaftlichen, wissenschaftlichen, die Fakten- und Do-It-Yourself-Bücher. (1996: populärwissenschaftliche Bücher = 13%, ernste populärwissenschaftliche = Fachbücher = 4,5%, pseudo-wissenschaftliche Werke = 2,5%, Theologie = 1 %.)

Die Zusammensetzung der letzten,
bzw. der eben gelesenen Werke
nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung

 Jahr   Im Prozentsatz der Erwachsenen 
 1978
Landes-
Erhebung 
 1986
Landes-
Erhebung 
 1991,1993
(9 Städte u.
Dörfer) 
 1996
UAdW 
Von dem Altertum bis zum Ende des 18.Jh.   2   2   2   2 
 19. Jh   20   15   6   4 
 Erste H.des 20.Jh.   14   12   15     
 1951-1960   16   9       15 
 1961-1970   26   10   16   8 
 1971-1980       18   49   8 
 1981-1990   -   -   60   22 
 nach 1990   -   -   -   40 
 nicht festzustellen   4   3   1   1 
 Gesamt   100   100   100   100 

Es handelt sich um eine gut bekannte Erscheinung, im doppelten Sinne des Wortes. Einerseits veränderte sich die Funktion der Belletristik grundsätzlich seit Ende der 80er Jahre auch in Ungarn, parallel mit der Entstehung der parlamentarischen Demokratie. Heute soll man keine Gedichte im Interesse der Wiederbelegung von Imre Nagy oder eine Novelle über politisch unaussprechliche Themen schreiben. Fast alles ist für die Publizistik und die Fachwissenschaften erlaubt. Andererseits wurde unser Leben viel pragmatischer, materialistischer und frei von Ideologie. Man möchte mehr, genauer und praktische Dinge wissen, und dies spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Lesestoffe wider!

Die Zusammensetzung der letzten,
bzw. der eben gelesenen
Werke nach ihrer Gattung

 Stil der Werke   Im Prozentsatz der Erwachsenen 
 1978
Landes-
Erhebung 
 1986
Landes-
Erhebung 
 1991 u. 1993
(9 Städte u.
Dörfer) 
 1996
UAdW 
 romantisch, klassisch, realistisch   12   8   2   2 
 19. Jh. o. früher realistisch   8   8   5   4,8 
 20. Jh.   21   18   13   16,8 
 modern (wertvoll)   5   5   3   3,3 
 Unterhaltungsliteratur   29   35   50   40,8 
 Sachbücher   20   25   26   32,3 
 Nicht festzustellen   5   1   1   1 
 Gesamt   100   100   100   100 

Diese neue Lage bringt auch die Schriftsteller in Verlegenheit ("man darf nicht über das öffentliche Leben schreiben" - obwohl über 1956 noch kein richtiges Buch entstand!), aber auch die Leser suchen nicht mehr die verborgenen Nachrichten der Fiktion, wie in den 60er und 70er Jahren.
 
Untersuchen wir jetzt auch die Nationalität der Autoren der Lesestoffe!

 Nationaliätat der Schriftsteller   Im Prozentsatz der Erwachsenen 
     1978
Landes-
Erhebung 
 1986
Landes-
Erhebung 
 1991 u. 1993
(9 Städte u.
Dörfer) 
 1996
UAdW 
 Ungarisch   58   55   44   39 
 aus euro päischen Ländern (ehemalig sozialistisch)   8   4   4   4 
 andere hauptsächlich westliche)   22   29   23   24 
 (Nord- u. Süd-) Amerika   8   7   25   32 
 andere   1   2   3   1 
 nicht festzustellen   3   3   1   - 
 Gesamt   100   100   100   100 

Nach dem bisher gesagten ist es gar nicht erstaunlich, dass die Daten gut erkennbare Tendenzen, Änderungsrichtungen zeigen. Seit drei Jahrzehnten sinkt der Prozentsatz der ungarischen Verfasser: vor 30 Jahren machten sie beinahe 60% aus, heute sind es bloss noch 39%. Nur 4% der ehemaligen sozialistischen, europäischen Autoren sind Russen, zusammen mit den sowjetischen. Aus dem 32% der amerikanischen Autoren sind die Südamerikaner bloss 0,6%. Nicht Faulkner, Hemingway, Williams, Updike, Salinger, Singer, Arthur Miller, Bellow oder Malamud wurden populärer, sondern die echten amerikanischen Bestseller, die rosige Traumwelt der Lüge, die schaudernden, aber von grösseren Gefühlsrisiko freien Kriminalromane: die dem Leser Befriedigung bringende, seine Wunschphantasien dienende Trivialliteratur gewinnt unaufhaltsam an Boden.
Geben wir als Schlussakkord die Topliste der eben gelesenen Bücher bekannt; alle hundertste Befragte erwähnte die Werke von L.L. Lõrincz (Das grosse Massaker, Der Monsun, Der Mörderbaum, Die Bucht der flüsternden Schatten, Der Sumpf des erwürgten Wikinges, Der Mörder kehrt immer zurück, Die Nacht des Werwolfs usw.), bzw. die amerikanischen "Schlagerautoren". Ausser Lõrincz werden als zeitgenössische Verfasser nicht András Sütõ oder Ervin Lázár, György Petri oder Gáspár Nagy, Tibor Gyurkovics, György Konrád, Péter Nádas oder Sándor Csoóri genannt, sondern die folgenden (in dieser Reihenfolge): Moldova, Berkesi, Esterházy, Péter Müller, Miklós Vámos und Tamás Vitray.

Die eben gelesenen Bücher

Schriftsteller/Name Zahl von Erwähnungen
 Lõrincz L., L.   52 
 Cook, R.   42 
 King, S.   35 
 Steel, D.   31 
 Rejtõ, J.   24 
 Mitchell, M.   20 
 Moldova, Gy.   19 
 Die Bibel   17 
 Jókai, M.   17 
 Merle, R.   15 
 Fable, V.   14 
 Follett, K.   14 
 Marsh, E.   12 
 Berkesi, A.   12 
 Christie, A.   12 
 Szilvási, L.   12 
 Bradford, B[arbara]   11 
 Remarque, E. M.   11 
 Smith, W.   11 
 Dallos, S.   10 
 Passuth, L.   10 
 Woodiwiss, K.   10 

Übrigens vor einem Jahr stand Robin Cook in einer Untersuchung, die unter 500 ungarischen Lehrer/innen durchgeführt wurde, an erster Stelle in der Auflistung der o.g. Lesestoffe. (Auf das Fluchtmoment wurde schon hingewiesen, aber die gründlichere Erklärung dieser Erscheinung steht noch als Aufgabe vor uns.) Man sollte einen kleinen Umweg machen, um die Veränderungstendenzen bei der Ausrichtung des Geschmacks, die sich in der Präferenz und Bewertung der gelesenen Werke zeigt, veranschaulichen zu können. 1970 führte Gábor Tánczos, 1995 ich selbst je eine landesweite soziologische Untersuchung über die Lesestoffe der Lehrer. Heben wir jetzt die Spitze der präferierten Autoren aus diesen zwei Untersuchungen heraus! Ohne Details zu erwähnen, können wir feststellen, dass 40% der Topliste vor 40 Jahren aus ungarischen Autoren bestand, während diese Liste heute nur einen einzigen enthält.15
Die Auswertung der Ursachen würde Eine selbständige Studie erfordern. Aber die Ergebnisse müssen als ausserordentlich gefährlich bezeichnet werden, die die Kontinuität der Kultur in Frage stellt, und das besonders jetzt, wo die lokalen Lehrpläne angefertigt werden. Die frühere Diagnose ist mit einer kleinen Ergänzung zu verstärken, d.h. die Lesegewohnheiten der sich modernisierenden ungarischen Gesellschaft, die zum einheitlichen Europa strebt und sich der globalen Weltordnung annähert, ist einerseits zielbewusster und pragmatischer geworden (Sachbücher), andererseits erhöhte sich die Anziehungskraft der die verschönende Illusion der Wahrheit bietenden - hauptsächlich amerikanischen - Trivialliteratur und die Popularität der (zeitgenössischen) ungarischen Werken lässt kontinuierlich und radikal nach. Der Markt seinerseits folgt diesen Bedürfnissen auf sensible Weise nach.

Lieblingsautoren* von Lehrer(inne)n
(Die Listenführer)

 Name   1970
 Name   1995
 Jókai, M.   27,0   Jókai, M.   25,8 
 *Németh, L.   20,0   Mikszáth, K.   5,8 
 Hemingway, E.   15,3   Móricz, Zs.   13,2 
 *Berkesi, A.   14,2   Merle, R.   10,4 
 *Passuth, L.   13,3   József, A.   7,6 
 Mikszáth, K.   12,9   Németh, L.   7,4 
 Móricz, Zs.   11,7   Örkény, I.   7,0 
 Tolsztoj, L.   10,3   Arany, J.   6,2 
 Fekete, I.   7,5   Radnóti, M.   6,0 
 *Szilvási, L.   7,4   Mann, Th.   5,4 
 Mann, Th.   6,7   Kosztolányi, D.   5,2 
 Gárdonyi, G.   6,5   Shakespeare, W   5,2 
 *Szabó, M.   6,3   Fekete, I.   5,2 
 *Váci, M.   6,1   Ady, E.   5,2 
 *Illyés, Gy.   5,6   Remarque, E.M.   5,0 
 Ady, E.   4,3   *Esterházy, P.   4,6 
 *Veres, P.   4,1   Pilinszky, J.   4,4 
 Arany, J.   3,9   Móra, F.   4,2 
 Dumas, A.   3,8   Cook, R.   3,4 
 József, A.   3,8   Gárdonyi, G.   3,4 
 *Fehér, K.   3,8   Tamási, Á.   3,0 
 Móra, F.   3,7   Márquez. G.   2,8 
 Balzac, H.   3,5   Petõfi, S.   2,6 
 Hugo, V.   3,1   Sienkiewicz, H.   2,4 

* mit Stern: die zeitgenössischen Schriftsteller

Wem, worüber und wie schreibt der bessere Anteil der zeitgenössischen einheimischen Schriftsteller? Wer hilft (und wie?) beim vollen Triumphieren der Marktverhältnisse, um die wichtigen Werke unserer Tage den Kennern zukommen zu lassen?
Damit die Bücher, das Lesen, die Belesenheit, die Literatur, die Gedichte sich nicht bloss als Pfeiler dieser Aussagen auf den Fragebogen zeigen und beschönigen den Antworten sind, sondern auch unabdingbarer Bestandteil der alltäglichen Praxis der Kultur bilden, müssen wir über Modernisierung sprechen. Sie bezieht sich nicht nur auf die Schaffung der pariamentarischen Demokratie und auf die Gestaltung der effektiven Marktwirtschaft, sondern damit auch auf parallel starke, Ihre Wurzeln beachtende, bürgerliche Werte, Moral und Kultur besitzende Mittelschicht.

 
Bibliotheksbenutzung

Wegen der Unterschiedlichkeit der Quellen kann man nicht genau gleiche Dimensionen in der Bibliotheksbenutzung nachweisen. 27% der Bevölkerung über 14 sagt es offen, dass sie noch keine Bibliothek besuchten, 22% davon aber bekennen sich als aktive Benutzer. (Leider kann diese Aussage nur mit einer Korrektur angenommen werden, denn es ist bekannt, dass die Bibliotheksbenutzung in der Mehrheit (70-80%) von Mittelschulen aber vor allem von Hochschulen - als grundlegendes Arbeitsmittel gefordert wird. (MTA, 1996.)
Die Bibliothekstypen und die Verteilung der Besuche werden in den folgenden Diagrammen gezeigt.
Dreiviertel der Benutzer ist jünger als 40 Jahre7, also es ist vollkommen klar, dass das Bildungssystem der wichtigste Auftraggeber ist, in besonderer Hinsicht auf die in den Mittel- und Hochschulen, an den Universitäten gegebenen Pflichtaufgaben. Die weltweite Tendenz erreichte auch Ungarn: die schmalen Lehrbücher sind durch Leselisten und Textsammlungen ergänzt. Der Leser braucht immer mehr schnelle Informationen, Daten, Textteile, Kopien von zeitschriftenaufsätze und die zahl der Ausleihe sinkt. Die Benutzer, die am häufigsten die Bibliothek besuchen, sind die Rentner, Studenten und Schüler, während die Schüler aus Fachschulen und die Arbeiter aus den öffentlichen Bibliotheken spurlos verschwinden.8 Ihre Nachfolger sind jetzt die Arbeitslosen, Obdachlosen, in sich Murmelnden, Ungewaschenen; diese "devianz-verdächtigen" Gruppen und Individuen sind noch nicht in der Statistik, aber "in den Konflikten, schweren Situationen" mit Kollegen schon öfters vertreten, und sie bereiten den Bibliothekaren, die einer Kommunikation dieser Art gar nicht vorbereitet sind, immer mehr Kopfschmerzen.

Welche Bibliothek besuchen Sie? Wie oft?



Eine spannende Komponente der Benutzung der Bibliothek versuchten wir mit einem jungen Mitarbeiter von der Werkstatt für Leseforschung darzulegen, als wir in 15 grösseren Bibliotheken alle Fragen, die bei dem Auskunftdienst gestellt wurden, zweimal in einer Woche (16-21. 1. 1995 und 30. 10-4. 11. 1995) durch Kollegen sammeln Iiessen.10 Die Rangliste zeigt die gestellten Fragen (nach Themen): Sprach- und Literaturwissenschaft (20%), Gesellschaftswissenschaften (19%), Geschichte und Ortsgeschichte (16%), Kunst, Sport (12%) und Naturwissenschaften (11 %) geführt - die Rechtsfragen und Alltagsprobleme machten je 6% aus.
 
Es ist vielleicht noch interessanter den Beruf der Fragenden nachzugehen.

 Die Fragenden nach Beruf   % 
 Schüler   37 
 Universitätsstudenten   27 
 Lehrer   10 
 Arbeiter   18 
 Arbeitslosen   2 
 Rentner   5 
 Gesamt   100 

* meistens Jugendliche aus Mittelschulen

Wie wir es sehen, stammen 74% der "Aufträge" aus dem Bildungssystem, also der Lehrer ist der wichtigste Mitarbeiter, Kollege und Partner der Bibliothek. Diese Tendenz wird in der Zukunft offensichtlich stärker werden, denn die Studentenzahl in den Mittel- und Hochschulen erhöht sich von Jahr zu Jahr; es kommt noch hinzu, dass der neue nationale Lehrplan, der im September 1998 eingeführt wird, sehr stark auf die Benutzung der Bibliothek baut. (Wenn es noch in der Schule einen Bibliothekar gibt!)
In den öffentlichen Bibliotheken beziehen sich die gesuchten Antworten selten auf Business-Informationen, bzw. auf Alltagsprobleme, Berufswahl oder Arbeitsplätze, aber die brauchbaren Auskünfte kommen noch seltener vor.
Ein Land, das eine effiziente Marktwirtschaft, eine funktionierende parlamentarische Demokratie und einen starken Mittelstand hat, also durch ihre konsolidierte gesellschaftliche Zustände, feste Formen der Konfliktbehandlung, d.h. durch stabile Werte, Moral und Kultur - die sich in Taten, Gesten und Worten erkennen lassen - gekennzeichnet werden kann, wird eine solche komplexe (schnelle und effiziente Auskunft gebende - aber zugleich auch einen Teil des sozialen Netzes ausmachende) Einrichtung wie die Bibliothek, d.h. öffentliche Bibliotheken brauchen.

(Übers: Ilona HEGYKÖZI - Lajos MURÁNYI)

 
DIE ZITIERTE LITERATUR

1. ANDORKA Rudolf - KOLOSY Tamás VUKOVICH György: Társadalmi riport. 1996. [Gesellschaftlicher Bericht 1996.] Budapest: Századvég, 1996. S.8.

2. Ebenda S.9.

3. KOPP Mária - SKRABSZKY Árpád: Magyar lelkiállapot. [Ungarischer Seelenzustand.] Budapest : Végeken, 1995. 305 S.

4. Siehe 1. S.10

5. FENYVESSYNÉ BÉKEI Gabriella: Kiskondás vagy Donaldkacsa. [Der kleine Schweinehirt Oder Donald Duck.] (Diplomarbeit.) Budapest : ELTE, 1996. 37 S.

6. FALUSSY Béla - VUKOVICH György: Az idõ mérlegen (1963-1993.) (Die Zeit auf der Waage: 1963-1993.] In: Andorka R. - Kolosy T. Vukovich Gy.: Társadalmi riport. 1996. S. 70-103.

7. VIDRA SZABÓ Ferenc: A könyvtárhasználati szokások változásai az utóbbi 10 évben. (Veränderungen in der Benutzung der Bibliothek in den letzten 10 Jahren.] In: Könyvtári Figyelõ, 1997. Nr.1. S. 59-71.

8. Ebenda

9. KONCZ Károly: Történetek a könyvtárban. [Geschichten aus der Bibliothek.] Budapest : MKE, 1994. S. 43.

10. W. PÉTERFI Rita: Referensz kérdések vizsgálata a közmûvelõdési könyvtárakban történt adatfelvétel alapján. [Untersuchung der Fragen an den Auskunftdienst aufgrund Erhebungen in öffentlichen Bibliotheken.] In: Könyv, Könyvtár, Könyvtáros, 1996. Nr.10. S. 34-43.

11. GEREBEN Ferenc: Könyv, könyvtár, közönség. [Buch, Bibliothek, Publikum.] (Manuskript.) Budapest, 1996. S. 223

12. HALÁSZ Gábor - LANNERT Judit (Hrsg.): Jelentés a magyar közoktatásról 1995. [Bericht über das ungarische Bildungswesen 1995.] Budapest : Országos Közoktatási Intézet, 1996. S. 294

13. Könyv és olvasás '96-97 [Buch und Lesen '96/97.] Budapest : Mûvelõdési és Közoktatási Minisztérium, 1996. am 15. Dez. S. 3

14. Kulturális fogyasztás. [Kultureller Verbrauch.] Budapest : Szonda Ipsos, Sept. 1996.

15. NAGY Attila: Napi robotos vagy organikus értelmiség? [Ein Tagelöhner oder ein organischer Intellektueller?j In: Új Pedagógiai Szemle, 1996. Nr.12. S.93-104.

Széchényi Nationalbibliothek
Bemerkungen (2000/05/02)